Das letzte Kapitel

(Erich Kästner, geschrieben 1930)

Am 12. Juli des Jahres 2003
lief folgender Funkspruch rund um die Erde:
daß ein Bombengeschwader der Luftpolizei
die gesamte Menschheit ausrotten werde.

Die Weltregierung, so wurde erklärt, stelle fest,
daß der Plan, endgültig Frieden zu stiften,
sich gar nicht anders verwirklichen läßt,
als alle Beteiligten zu vergiften.

Zu fliehen, wurde erklärt, habe keinen Zweck.
Nicht eine Seele dürfe am Leben bleiben.
Das neue Giftgas krieche in jedes Versteck.
Man habe nicht einmal nötig, sich selbst zu entleiben.

Am 13. Juli flogen von Boston eintausend
mit Gas und Bazillen beladene Flugzeuge fort
und vollbrachten, rund um den Globus sausend,
den von der Weltregierung befohlenen Mord.

Die Menschen krochen winselnd unter die Betten.
Sie stürzten in ihre Keller und in den Wald.
Das Gift hing gelb wie Wolken über den Städten.
Millionen Leichen lagen auf dem Asphalt.



Jeder dachte, er könne dem Tod entgehen.
Keiner entging dem Tod, und die Welt wurde leer.
Das Gift war überall. Es schlich wie auf Zehen.
Es lief die Wüsten entlang. Und es schwamm übers Meer.

Die Menschen lagen gebündelt wie faulende Garben.
Andre hingen wie Puppen zum Fenster heraus.
Die Tiere im Zoo schrien schrecklich, bevor sie starben.
Und langsam löschten die großen Hochöfen aus.

Dampfer schwankten im Meer, beladen mit Toten.
Und weder Weinen noch Lachen war mehr auf der Welt.
Die Flugzeuge irrten, mit tausend toten Piloten,
unter dem Himmel und sanken brennend ins Feld.

Jetzt hatte die Menschheit endlich erreicht, was sie wollte.
Zwar war die Methode nicht ausgesprochen human.
Die Erde war aber endlich still und zufrieden und rollte,
völlig beruhigt, ihre bekannte elliptische Bahn.

           
aus: Kästner für Erwachsene, S. Fischer Verlag

Vor über 70 Jahren schrieb Erich Kästner das Gedicht “Das letzte Kapitel”. Darin stellte er sich die Zukunft der Menschheit wenig 
optimistisch vor, sieht gar ihren einzigen Ausweg in der Selbstzerstörung, die er sich in dichterischer Freiheit für das Jahr 2003 vorstellt. 

Das Gedicht erschien erstmals im Jahre 1930, in dem Gedichtband “Ein Mann gibt Auskunft” .

 

Erich Kästner wird am 23. Februar 1899 in Dresden als Sohn der späteren Friseuse Ida Kästner (1871-1951) und des Sattlermeisters Emil Richard Kästner (1867-1957) geboren.

Zu seiner Mutter hat er Zeit ihres Lebens ein sehr enges Verhältnis; mehr als 30 Jahre lang schreiben sie sich fast täglich Briefe. Die Konstellation Mutter-Sohn lässt für keinen anderen Platz, wie Kästner in seiner Jugendbiografie schreibt "Als ich ein kleiner Junge war" (1957). So wird zum "Musterknaben". Seine kindliche Umwelt spiegelt sich in seinen Romanen für Kinder wieder. Dieses Verhältnis zu seiner Mutter bestimmt auch sein weiteres Leben: ein "Muttersöhnchen" sozusagen.

Literarisch tritt Erich Kästner erstmals 1927 in Berlin in Erscheinung. Hier etabliert er sich von 1933 an mit einer "kleinen Versfabrik", als „Gebrauchslyriker“ und als Kinderroman-Schreiber.
Dieser Lebens- und Schaffensabschnitt wird zum literarischen Fundament für einen Platz in der Literaturgeschichte.
Seine Gedichtbände "Herz auf Taille" (1928) und "Lärm im Spiegel" (1929), sein Roman "Fabian" (1931) und seine Romane für Kinder

"Emil und die Detektive" (1928) "Pünktchen und Anton" (1931) und "Das fliegende Klassenzimmer" (1933) sind Literaturgeschichte!

Mit kessen, frivolen Gedichten schreckt er die Öffentlichkeit auf, mit Zeitkritik nimmt er klar Stellung gegen den heraufziehenden Nationalsozialismus.
Die Kinderromane bringen vieles aus Kästners eigner Erlebniswelt ein, zugleich sind sie Abbilder von Kinderschicksalen, die zu seiner Zeit möglich sind.

1933 werden Kästners Bücher zusammen mit denen anderer Autoren öffentlich verbrannt und 1942 erhält er schließlich Schreibverbot.

Nach dem Krieg lässt sich Kästner in München nieder. Er ist noch einmal erfolgreich, es kommt zu einer breiten Kästner-Rezeption. Bis zuletzt engagiert er sich im politischen Bereich in allen Tagesfragen. Die Romane für Kinder werden neu verfilmt. Abbilder einer erlebbaren Wirklichkeit werden sie aber nicht mehr, selbst wo sie im neueren Sinne aktualisiert werden. Eine Ausnahme macht "Das doppelte Lottchen", Roman für Kinder, der erst nach dem Krieg voll ausgestaltet und inszeniert wird. Aus Kästners Kinderbüchern lernt das Ausland Deutsch und sie werden in alle Sprachen übersetzt. Diese Popularitätswelle läuft aber in den sechziger Jahren aus. Erich Kästner stirbt am 29. Juli 1974 in München.


 

 

 

 

 

 

 

Sein schlichtes Grab mit eisernem Grabmal findet man auf dem kleinen Friedhof bei St. Georg in München-Bogenhausen.
Mit ihm ist seine langjährige Lebensgefährtin Luiselotte Enderle (19.1.1908 - 3.11.1991) begraben, die als Namensgeberin im „Doppelten Lottchen“ verewigt wurde
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